Gedanken über die Eisenbahn
Die Eisenbahnschienen in Deutschland sprechen nicht mehr. Die Schienensprünge, die einst ein geflüstertes k-k k-k--k-k k-k trommelten, das sich in den komplexen Rhythmen und Gegenrhythmen der Kreuzungen brach, wurden durch nahtlose und glattpolierte Schienenstränge ersetzt. Die neueren Züge, die Intercities, sind fast schalldicht. Die Passagiere sitzen von der Landschaft getrennt. Der Intercity von Berlin nach Hamm, wo ich umsteigen mußte, um nach Geseke zu kommen, hielt nur vier Mal: In Magdeburg, Braunschweig, Hannover, und Bielefeld. Gemütlichkeit und Geschwindigkeit haben aber ihren Preis.
1951, als ich fünf war, wohnte ich ein Jahr lang in Deutschland. Mein Vater war zurück gekommen, um Wiedergutmachung für sich zu beantragen und Geschäftskontakte wieder aufzunehmen. Das k-k k-k--k-k k-k Geräusch der Schienen zwischen Dortmund und Geseke ist vertraute Erinnerung. K-k k-k--k-k k-k heißt für mich Kindheit. Es heißt kleine grau-braune Häuser, Brennnesseln, Pfeil und Bogen spielen, Schnecken, die wir Lausbuben mit Salz auflösten. Es heißt mit meinem Vater zuhause sein. Der Geruch der kohlebrennenden Lokomotiven mit ihren riesigen Rädern ist mir auch in frischer Erinnerung.
Oktober 1995 kehrte ich zum ersten Mal wieder nach Geseke zurück, um eine Gruppe von Deutschen zu treffen, die sich sechs Jahre zuvor die Aufgabe gestellt hatten, die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Geseke zu dokumentieren und zu ihrer gedenken. Eines Tages, als ich Marianne, meiner Gastgeberin, meine Erinnerungen an Geseke erzählte und mein Lieblingsgeräusch nachahmte, kam ihr Mann herein. "Ach", sagte Franz, "die alte Eisenbahn". Und er schaute weit in die Ferne. Ich hatte ihn momentan in die alte Zeit versetzt.
In Polen sind die Schienen noch die alten, und ich vermute, daß die Erinnerung dort auch gegenwärtiger ist, mehr an der Oberfläche. Als ich von Berlin nach Auschwitz reiste, passierte ich Städte und Dörfer, die noch so aussahen, wie ich Geseke in Erinnerung hatte. Es waren sozusagen deutsche Dörfer auf polnischem Gebiet. Ab und zu sah ich alte hölzerne Güterwagen, verwahrlost und verlassen auf einer Nebenschiene stehend. Klein und mit sehr schönen gebogenen Dächern. Dieses Bild brachte meine Gedanken zurück auf das was mir mein Gastgeber in Berlin kurz nach meiner Ankunft erzählte. Wolfgang ist Ökologe und reist oft geschäftlich durch Polen, spricht Polnisch, und kennt sich dort gut aus. Er meinte, daß die Polen, die auf ehemaligem "deutschen" Gebiet wohnen, ein weniger respektvolles Verhältnis zum Lande haben als die, die im polnischen Herzland leben. Es sei, meinte er, als ob sie sich fast nicht trauten zu glauben, daß das Land ihnen nicht wieder weggenommen würde. Sie sehen ja jeden Tag Häuser im alten deutschen Stil. Hat er das gemeint? Ich kann Wolfgangs Betrachtungen nicht bewerten. Jedenfalls sind es nicht die Spekulationen eines Revanchisten, obwohl sie es gut sein könnten.
Daß die Erinnerung gegenwärtiger ist, mehr an der Oberfläche, heißt nicht, daß mit der Vergangenheit besser umgegangen wird. Die Polen, die so viel gelitten haben, haben sich an ihr Antisemitismus kaum eingestanden. Und es ist ja auch der Fall, daß Blutfehden die Folge einer gegenwärtigen Erinnerung an eine zum Mythos gewordenen Vergangenheit sind. Die Parole "Nie wieder!" ist zweideutig.
Für diejenigen, die aber das vergessen wollen, was sie gesehen, gehört, und getan haben, ist die Demontage von äußerlichen Zeichen bequem. Nach dem Krieg wurden mehr solide deutsche Bauten demoliert als durch alliierte Bombenangriffe zerstört wurden. Eine neue Welt wurde geschaffen, in der man sich, wenigstens vom Äußerlichen her, nie gezwungen fühlte, sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen.
Das geht aber nicht auf die Dauer. Die Fähigkeit, in einem Zustand des Vergessens zu leben, welche die deutsche Gesellschaft bis in die 60er Jahre gekennzeichnet hat, wurde durch die unbequemen Fragestellungen der 68er-Generation schwer gestört.
In unserer modernen Welt ist es durchaus möglich, zu glauben, daß wir unhistorische Wesen sind, die nur in der Gegenwart leben. Wir vergessen leicht, woher wir stammen. Das Geräusch der Schienen versetzte mich wieder in den Schoß meiner eigentlich nie gewesenen Familie. Aber ich bin mir jetzt bewußt, daß sich diejenigen, die in Güterwagen gezwungen wurden, das k-k k-k--k-k k-k der Züge auch anhören mußten, als sie ihrem Endziel entgegeneilten.
Meine Reise nach
Auschwitz
zurück/back
Bitte senden Sie mir eine Nachricht: mail@kfkronenberg.com