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Die letzten Juden in Geseke

Dies ist ein Bericht darüber, was ich selbst erlebt habe in den Jahren, als viele Menschen, besonders die Juden, verachtet und vernichtet wurden. In der Zeit des Nationalsozialismus ließ man sie in unbarmherziger Weise ausrotten und verhungern. Als junges Mädchen habe ich das damals stark empfunden, und es ist besonders wichtig, daß man in der heutigen Zeit darüber spricht und schreibt und die verabscheuungswürdigen Taten nicht verheimlicht.

So geschah es, daß ich als junges Mädchen mit Juden bekannt wurde, die in meinem Elternhaus ein- und ausgingen. Meine Eltern zogen viel Geflügel auf, und da die Juden wegen ihres Glaubens kein Schweinefleisch essen dürfen, kauften sie des öfteren bei uns Geflügel. So entstand schon früh der Kontakt zu diesen Menschen. Es waren die Eheleute Kronenberg.

Ferdinand und Ida Kronenberg hatten in Geseke ein gutgehendes Geschäft geführt. Nach der Machtergreifung Hitlers mußten sie nach und nach all ihren Besitz verkaufen, um leben zu können. So wurden sie arm und ärmer, so daß es kaum noch für das tägliche Brot reichte. Herr Kronenberg mußte inzwischen als städtischer Arbeiter die Kanäle säubern, keine saubere Arbeit für den alten Herrn. Meine Mutter bot ihnen an, sie sollten kommen und sich holen, was sie zum Leben brauchten. Und so kam Frau Kronenberg und holte sich schon mal Gemüse, Eier, Butter und Brot von meinen Eltern.

Eines Tages kam Frau Kronenberg wieder einmal und holte solche Kleinigkeiten, die sie nötig brauchte. Mein Onkel Wilhelm, der gelähmt war, war mit uns Kindern allein zu Hause, denn meine Eltern arbeiteten gerade auf dem Feld. Ich habe aus unserem Garten Salat und Möhren geholt und packte alles zusammen, was sie sonst noch brauchen konnten. Es hungerten ja viele Menschen in den Jahren, auch unsere Soldaten im Krieg. Ist es da nicht unsere Pflicht, auch Juden zu helfen? Wenn Frau Kronenberg kam, hatte sie nie große Wünsche, sie war dankbar für Kleinigkeiten.

Nachdem ich ein paar Möhren aus dem Garten geholt hatte, schnitt ich das Laub ab und packte alles zusammen. Frau Kronenberg war gerade gegangen, da kam unser Nachbar, ein schwerer Nazi, zu uns herüber und sprach mit böser Stimme zu meinem Onkel: "Wilhelm, was hat das alte Judenweib hier wieder geholt?" Mein Onkel sagte zu ihm: "Heinrich, sie hat sich nur ein paar Möhren geholt. Schau, das abgeschnittene Laub liegt noch da!" Unser Nachbar aber behauptete, sie habe mehr geholt, und dann drohte er: "Wenn ich das alte Judenweib noch einmal hier sehe, bringe ich euch dahin wo ihr nicht gerne hingeht." In diesem Augenblick kam mein kleiner Bruder aus der Küche, wo er Schularbeiten gemacht hatte und alles mit angehört hatte, was dieser Mann in seiner Wut gebrüllt hatte. Ruhig und mit kindlichem Vertrauen sagte er: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" Wutentbrannt verließ der Nachbar unser Haus. Nach kurzer Zeit kam er aber wieder zurück und behauptete das habe mein Bruder nicht von sich aus gesagt, sondern er sei von einem anderen dazu angestiftet worden. Er wurde sogar so böse, daß mein Onkel sich entschuldigte und ihn bat, die Sache auf sie beruhen zu lassen.

Am Abend wurde nun beraten, wie wir den Eheleuten Kronenberg weiter helfen konnten. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß wir ihnen Lebensmittel bringen mußten, ohne daß unsere Nachbarn etwas merkten. So trug meine Mutter mir auf: "Hör zu, du hast noch junge Beine! Du kannst den alten Leuten das bringen, was sie brauchen." Gemeinsam wurde überlegt, welche Wege ich gehen sollte, damit wir nicht in Verdacht gerieten, denn die Eheleute Kronenberg wohnten am anderen Ende der Stadt.

So kam ich dazu, das hinzubringen, was den alten Leuten fehlte. Den Eheleuten Kronenberg wurde Nachricht gegeben, daß alles so weitergehe. Abends, wenn es dunkel geworden war, machte ich mich dann auf den Weg. Es war ein weiter Weg, so daß ich teilweise auch lief. Nachdem ich an der Wohnung angekommen war und geschellt hatte, machte Frau Kronenberg die Tür auf und schaute erst ganz vorsichtig, wer dort sein könnte. Wenn sie mich erkannte, nahm sie mich schnell bei der Hand und schloß die Tür. Leise gingen wir die Treppe hinauf, denn sie wollte auch die Hauseigentümer, die ihnen noch Wohnung gaben, nicht belästigen. Sie sagte oft: "Wir sind Juden, und ich möchte keinen damit belasten."

So wiederholte sich der Weg des öfteren. Ich war noch jung und konnte die Armut nicht begreifen. Die Eheleute Kronenberg hatten in ihrer Wohnung kaum noch Möbel: ein Tisch, zwei Stühle, ein Schrank, ein Herd. Zwei leere Apfelsinenkisten standen aufrecht an der Wand, darauf lag ein ungehobeltes Brett. Das war der Platz, wo wir oft saßen. Und dann erzählten sie mir von ihren Söhnen, die schon vor längerer Zeit ausgewandert waren und in den USA lebten. Sie sagte mir, wenn ihre Söhne einaml wieder nach Geseke kämen, solle ich sie von ihnen grüßen und ihnen erzählen, wie es den Eltern im Alter ergangen sei.

So saßen wir immer wieder auf dem Brett, das als Bank diente. Eines Abends stand die arme Frau auf, ging zum Schrank und nahm eine Tasse heraus. Die Tasse hatte Risse und keinen Griff mehr. Aus dieser Tasse nahm sie ein Medaillon und sagte: "Das schenke ich dir als Andenken. Es ist nicht viel, was wir noch haben." Dann fragte sie ihren Mann: "Hast du nicht auch noch eine Kleinigkeit?" Herr Kronenberg überlegte und sagte: "Wenn sie uns eines Tages holen, und sie finden nichts mehr bei uns, schlagen sie gleich zu." Frau Kronenberg schaute traurig und erwiderte: "Was ist denn noch unser Leben!" Da entschloß er sich und nahm einen Kompaß von seiner Uhrkette. Er sah mich an und sprach mit festen Worten: "Behalte ihn als Andenken an uns Juden! Wenn du eines Tages wieder einmal kommst und vor der Tür stehst, und es öffnet dir keiner mehr, dann weißt du, daß sie uns abgeholt haben."

Ich ging solange zu den Eheleuten Kronenberg, bis die Tür eines Tages tatsächlich verschlossen blieb. Gedankenverloren ging ich mit meiner Tasche mit Lebensmitteln heim. Zu Hause erzählte ich, was geschehen war. Es gab niemals ein Wiedersehen. Nur das Medaillon und der Kompaß sind ein bleibendes Andenken.

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